Leseprobe

Jon Cohen Der Krähenmeister
1. Kapitel

IM JAHR 875 DER QUALANISCHEN ZEITRECHNUNG

Die junge Frau warf mit einer schwungvollen Bewegung ihr rotes Haar zurück, schlüpfte aus ihren abgetragenen Lederstiefeln und ließ sich in den schmalen Fluss gleiten. Die Straße war menschenleer und dunkel, kein Geräusch durchbrach die Stille der Nacht. Der kleine graue Gecko folgte ihr und sprang ebenfalls in den Fluss. Die Frau begann zu schwimmen, mit gleichmäßigen Zügen glitt sie durch das kalte Wasser und hielt ihren Kopf gesenkt. Plötzlich durchbrachen eilige Schritte die Ruhe. Als die Frau die Schritte hörte, holte sie tief Luft und tauchte. Auf der dunklen Straße erschienen eine Handvoll Männer, alle waren sie in Kettenhemden gekleidet und mit Speeren bewaffnet. Ihr Anführer trug einen Schild, auf dem eine schwarze Krähe auf rotem Grund abgebildet war.

„Los, sucht sie. Schnell!“, schnarrte er, und seine Männer verteilten sich in den Gassen des verschlafenen Dorfes.  

„Schaut auch zum Fluss!“, befahl er und schritt auf eine Brücke zu, die sich neben dem Dorftempel befand. Doch so fieberhaft die Krieger auch suchten, die Frau war nirgends zu finden. Diese war ein gutes Stück getaucht und schwamm nun rasch vom Dorf weg. Sie zeigte keine Spur von Ermüdung und auch der Gecko schien noch keine Pause nötig zu haben.

Die Nacht war stockfinster, kein Mondstrahl durchbrach die Dunkelheit und am Himmel glühten nur wenige Sterne. Der Fluss führte durch eine hügelige Ebene voll knorriger Bäume und trockener Büsche. Außer ein paar Höfen in der Ferne gab es keine Anzeichen menschlicher Zivilisation mehr. Nach einer Weile hatte die Frau einen so großen Abstand zum Dorf zurückgelegt, dass man es nicht mehr sehen konnte, und sie kletterte lautlos aus dem Fluss. Ihre Kleider trieften vor Nässe, und die Stiefel, die sie sich an den Gürtel gebunden hatte, wogen schwer. Nun spürte sie die Erschöpfung, aber hier konnte sie nicht rasten. Sie musste weiter. Leise pfiff sie den Gecko herbei, wrang ihre Kleider und Stiefel aus und machte sich auf den Weg.

Kein Pfad führte durch die Ödnis, doch sie orientierte sich an den Sternen und wandte sich nach Süden. Trotz ihrer Müdigkeit schritt sie rasch aus, denn ihre Verfolger waren sicherlich nicht weit. Sie fürchtete, dass die Krähenfestung – oder ihr Herr, der Krähenmeister – viele Soldaten ausgeschickt hatte, um sie zu fangen. Das durfte auf keinen Fall passieren.

Der Gecko, der die ganze Zeit hinter ihr hergelaufen war, gab plötzlich ein quakendes Geräusch von sich. Alarmiert wirbelte die Frau herum und sah in der Ferne einige Lichtpunkte, die sich gleichmäßig über die Ebene verteilten. Einige davon hielten direkt auf sie zu und wurden rasch größer. Also hatten die Verfolger ihre Fährte wieder aufgenommen. Man könne ihnen nicht entkommen, hatte Kardana einmal zu ihr gesagt. Panik stieg in ihr auf und sie begann zu laufen. Ihre Stiefel machten kein Geräusch, als sie quer über die trockene Ebene auf ein kleines Wäldchen zulief. Das einzige Geräusch waren ihre abgehackten Atemzüge. Trotz der kühlen Nachtluft lief ihr der Schweiß in Strömen über das Gesicht. Sie blickte sich um und sah, dass die Reiter sich getrennt hatten und in einer lockeren Linie die Ebene entlang ritten. Offenbar hatten sie sie noch nicht entdeckt. Doch der Abstand war deutlich kleiner geworden.

Sie rannte durch die undurchdringliche Nacht, weiter auf das Wäldchen zu. Ihre Kräfte waren fast am Ende, sie keuchte vor Anstrengung, aber sie blieb nicht stehen. Endlich hatte sie den Wald erreicht. Sie war schweißgebadet und vor ihren Augen tanzten farbige Punkte. An einem dicken Baum angekommen hielt sie inne und blickte hinauf. Seine Krone war dicht bewachsen – ein besseres Versteck würde sie hier wohl kaum finden. Mit allerletzter Kraft ergriff sie den untersten Ast und zog sich hinauf. Der Gecko war schon in die Tasche ihres weiten Umhangs gekrochen, sie hörte ihn heftig schnaufen. Trotz ihrer Erschöpfung musste die Frau lächeln: Bisher war ihr kleiner Begleiter unermüdlich gewesen, doch nun kam auch er an seine Grenzen. Immer höher kletterte sie, bis sie eine breite Astgabel im Wipfel erreicht hatte. Dort setzte sie sich so bequem wie möglich hin und versuchte, wieder zu Atem zu kommen. Dabei hielt sie Ausschau nach ihren Verfolgern.

Was sie sah, ließ sie aufatmen: Die Männer ritten mit wehenden Mänteln und donnernden Hufen in einer langen, geraden Linie an dem Wäldchen vorbei und schwenkten suchend ihre Fackeln. Die Frau schätzte ihre Anzahl auf etwa vierzig Reiter, doch sicherlich waren noch mehr Soldaten auf der Suche nach ihr.

Nachdem sie sich etwas erholt hatte, holte sie den grauen Gecko aus der Tasche und setzte ihn auf ihre Hand. Er passte genau darauf.

„Na, Kleiner, geht es wieder?“, flüsterte sie.

Das Tier sah sie mit seinen glänzenden schwarzen Augen an und quakte leise. Sie lächelte, streichelte dem Gecko über den glatten Kopf und setzte ihn zurück in die Tasche ihres Mantels. Sie war hungrig und durstig, doch sie hatte bei ihrer Flucht keinen Proviant mitnehmen können. Sie versuchte, das Gefühl zu unterdrücken, schloss die Augen und lehnte sich an den breiten Stamm des Baumes.

Sie musste an ihren Vater denken und Tränen traten ihr in die Augen. Sie vermisste ihn und sehnte sich danach ihn wiederzusehen. Gleichzeitig hatte sie aber auch furchtbare Angst, ihn in Gefahr zu bringen. Vor allem nach dem, was mit Kardana geschehen war. Noch bevor die Tränen ihre Wangen ganz hinuntergelaufen waren, war sie eingeschlafen.

 

Sie sieht Blutflecken im Schnee, dunkelrot glänzend in der aufgehenden Sonne. Sie muss sich zwingen weiterzugehen, klammert sich an die eiskalte Hand, die sie mitzieht, die sie aber auch stützt. Ihr Atem geht abgehackt, unruhig. Ein Feuer, wir brauchen ein Feuer, ist alles, was sie denkt. Wie weit noch? Eine Höhle im Wald, trockenes Laub und ein kleiner Kessel mit dunkelgrünen Kräutern. Der Geruch von nasser Wolle, vermischt mit Blut. 

2. Kapitel

Sie erwachte mit dem Aufgang der Sonne. Im Licht wirkte der Wald nicht mehr so ungastlich wie noch in der Nacht. Mit trockenem Mund und steifen, schmerzenden Gliedern kletterte sie vom Baum herunter. Ihre Kleider waren noch feucht und die Stiefel klamm, doch sie hatte nun genügend Kraft für den Weitermarsch. Vorsichtig ging sie bis zum Waldrand und verbarg sich im dichten Gebüsch. Sorgfältig suchte sie mit den Augen die vor ihr liegende Ebene nach einer Bewegung ab, doch im gleißenden Sonnenlicht des beginnenden Spätsommertags rührte sich nichts. Also verließ sie den Wald und schritt kräftig aus. Die brennende Sonne machte ihr nichts aus, und auch der Gecko, der sich inzwischen wieder aus dem Schutz ihres Mantels begeben hatte, lief unermüdlich hinter ihr her. Innerhalb von fünf Tagen wollte sie in Maradanos sein, der kleinen Stadt im besetzten Norden des Königreichs Hâlmoren.

Den ganzen Tag marschierte sie, und obwohl Hunger und Durst sie peinigten, hielt sie nur zweimal kurz an, um etwas Wasser aus einem kleinen Bach zu trinken und einige Beeren von einem trockenen Busch zu essen. Abends kletterte sie in einen Baum und schlief versteckt in dessen Krone. So kam sie rasch voran, und als die Nacht des zweiten Tages hereinbrach, erreichte sie den Du Nosil, den großen Fluss, der die Königreiche Torgulin und Hâlmoren voneinander trennte. Eine gepflasterte Straße führte am Ufer des mächtigen Flusses entlang, doch sie hatte nicht vor, ihr zu folgen. Der Feind war nahe, das konnte sie deutlich spüren.

Stattdessen wollte sie den Strom an einer geeigneten Stelle überqueren und quer durch den Rôewanion-Wald nach Maradanos weitergehen. Die meisten Reisenden mieden diesen Wald, denn er war sehr groß und dicht. Viele Wandernde hatten sich bereits darin verirrt oder waren von den zahlreichen gefährlichen Kreaturen darin getötet worden. Doch es war der kürzeste Weg und die beste Möglichkeit, ihre hartnäckigen Verfolger abzuhängen.

Sie folgte dem Flusslauf auf der Suche nach einer Brücke oder Furt. Inzwischen war es wieder Nacht geworden, aber da sie es ohnehin vorzog, den Du Nosil im Schutz der Dunkelheit zu überqueren, machte sie keine Rast. Nachdem sie eine Weile durch die Dunkelheit gegangen war, erblickte sie in der Ferne das Licht einer kleinen Ortschaft, in deren Mitte eine große Steinbrücke über den Fluss führte.

Sie beschleunigte ihre Schritte und hielt dabei Ausschau nach den Krähensoldaten, doch auf diese Entfernung konnte sie keine ausmachen. Wachsam näherte sie sich dem kleinen Dorf und suchte dabei unablässig nach Bewegungen. Als sie die Ortschaft fast erreicht hatte, hörte sie Stimmen. Offenbar befand sich ein kleines Gasthaus direkt am Ortseingang, denn aus einem der Häuser dort drangen wüste Rufe und Gelächter.

Sie hüllte sich enger in ihren dunkelbraunen Mantel und huschte weiter. Sie wollte so schnell wie möglich den Fluss überqueren und in den Wald verschwinden. Ihre Verfolger machten ihr mehr Angst als alle Wesen, die sich darin aufhielten. Kurz vor der Ortschaft machte sie noch einmal halt und verbarg sich hinter einem umgestürzten Baum, um die Lage zu überblicken. Durch das erleuchtete Fenster des Wirtshauses konnte sie in die Gaststube sehen, in der zahlreiche Dorfbewohner saßen, Bier tranken und sich laut unterhielten. An einem Tisch saßen mehrere Soldaten und aßen ihre Suppe aus hölzernen Schalen.

Die Frau richtete ihr Augenmerk auf die Brücke und entdeckte zu ihrer Sorge, dass das steinerne Wachhäuschen mit zwei Brückenwächtern besetzt war. Zudem patrouillierten ein paar andere Wächter um die Brücke herum. Sie trugen leichte Rüstungen aus Leder und Eisen und waren mit langen Spießen bewaffnet. Die Frau zögerte. Sie war unbewaffnet und es schien ihr nicht ratsam, sich mit den Wächtern anzulegen. Schließlich beschloss sie, am Ufer des Flusses weiterzugehen und einen anderen, schlechter bewachten Übergang zu suchen.

Unhörbar bahnte sie sich einen Weg durch das Gebüsch, als sie plötzlich das Geräusch von Hufen hörte. Hastig blickte sie sich um und sah eine Schar Reiter die breite Straße entlang galoppieren. Sie trugen Fackeln und waren ohne Zweifel Soldaten des Krähenmeisters. Erschrocken verharrte sie einige Sekunden an ihrem Platz, während sich die Reiter schnell näherten. Was sollte sie jetzt tun? Sie war gefangen zwischen den anstürmenden Reitern und den Patrouillen der Brückenwächter. Sie konnte nur weiterlaufen und hoffen, dass die dichte Dunkelheit sie vor Entdeckung schützen würde. Vorsichtig huschte sie zwischen einigen Büschen weiter und versuchte, vom Fluss und der Straße wegzukommen.

Ein Lichtstrahl fiel auf sie.

„Da ist sie!“, brüllte der Reiter, der sie entdeckt hatte, und schwenkte seine große Öllaterne.

Die Frau fluchte, schlug einen Haken und rannte auf die Brücke zu. Nun konnte sie nur noch die Flucht nach vorne antreten. Unter den Reitern brach Tumult aus und sie lenkten ihre Pferde in ihre Richtung. Die Rufe der Reiter und das laute Wiehern der Pferde hatten auch die Soldaten in dem Wirtshaus alarmiert, die nun eilig herausgelaufen kamen.

Keuchend lief die junge Frau auf die Brücke zu, doch die Brückenwächter hatten ihr steinernes Häuschen verlassen und versperrten ihr den Weg. Angstvoll sah sie sich um und versuchte, einen Ausweg zu finden. Wo konnte sie jetzt hin? Sie zögerte einen weiteren Moment, bevor sie erneut die Richtung änderte und auf den steinernen Bogen der Brücke zulief. Sie zog den Kopf ein und verschwand unter der Brücke. Damit hatten die Krieger jedoch offenbar gerechnet, denn auf ein Kommando ihres Anführers teilten sie sich schnell auf und näherten sich der Brücke von beiden Seiten. Zu spät begriff die Frau, dass sie in eine Falle gegangen war. Sie konnte auf keiner Seite mehr hinaus und über den Fluss konnte sie auch nicht, da die Strömung reißend und das Wasser tief war.

Rasch näherten sich die Soldaten der Brücke. An ihrer Spitze ging ein Mann mit einem Schwert in der einen und einer Fackel in der anderen Hand. Er trug nicht wie die anderen ein schwarzes Kettenhemd, sondern eine schimmernde weiße Rüstung, einen langen roten Umhang und einen eisernen Helm mit geschlossenem Visier. Die Frau hatte ihn schon einmal gesehen und die Erinnerung an ihr letztes Treffen war alles andere als angenehm. Die Angst drohte sie zu lähmen. Sie huschte zu einem der mächtigen Pfeiler der Brücke und lehnte sich mit dem Rücken dagegen, sodass sie niemand von hinten angreifen konnte. Schon konnte sie die Gesichtszüge der Soldaten sehen. Ihre Fackeln tauchten die Umgebung in flackerndes Licht und vertrieben die Dunkelheit. Sie holte ein paar Mal tief Luft und versuchte, sich zu beruhigen.

Der Ritter mit dem geschlossenen Visier befahl seinen Männern stehenzubleiben und die Soldaten bildeten zusammen mit den Brückenwächtern einen großen, lockeren Halbkreis um die Frau, die aufrecht vor dem Pfeiler stand und ihre Feinde erwartete. Der Ritter blieb einige Meter von ihr entfernt stehen und betrachtete sie durch das geschlossene Visier seines Helmes. Er schätzte sie auf Mitte zwanzig. Sie war ziemlich klein, reichte ihm nur bis zur Brust, und sehr schlank, eher zierlich. Er betrachtete ihr schmales, blasses Gesicht mit den großen graublauen Augen und dem feuerroten lockigen Haar. Sie wirkte verängstigt, doch in ihren Augen konnte er auch etwas anderes erkennen. Wut vielleicht? Er war sich nicht sicher.   

Mit kalter Stimme schnarrte er in Hochqualanisch: „Hast du gedacht, du könntest uns entkommen? Soweit du auch läufst, Weib, uns kannst du niemals abschütteln.“

Seine Stimme kam dumpf unter dem geschlossenen Visier hervor, doch er öffnete es nicht. Als sie nichts erwiderte, sagte er zu seinen Männern: „Noch schweigt sie, doch bald wird sie uns viel erzählen. Ergreift sie!“

Noch ehe sich einer der Männer auch nur gerührt hatte, hob die Frau beide Arme. „Wagt es nicht, mich anzurühren!“

Ihre Stimme klang fest, obwohl sie am ganzen Körper bebte.  

Der Ritter schnaubte und gab seinen Männern einen Wink. Sie grinsten höhnisch, als sie auf die junge Frau zuliefen. Sie spannte ihren ganzen Körper an, nahm die Arme herab und spreizte mit einer ruckartigen Bewegung die Finger. Aus ihren Handflächen schossen wie aus dem Nichts große, feurige Bälle hervor. Mit verzerrtem Gesicht schleuderte die Frau ihre Feuerkugeln um sich. Innerhalb weniger Sekunden zerstörte sie die geordnete Stellung der Soldaten, die vollkommen überrumpelt schienen. Die brennenden Kugeln entzündeten bei ihrem Aufprall sofort die Hosen, Mäntel und Haare der Soldaten. Lichterloh brennend, mit Brandwunden an Armen und Beinen liefen sie in Panik umeinander, wälzten sich auf dem Boden oder stürzten sich in den Fluss.

„Das ist für dich!“, brüllte die Zauberin und jagte einen großen Feuerball auf den Ritter zu, der sich am schnellsten von seiner Überraschung erholt hatte und mit erhobenem Schwert auf sie zukam. Dann wirbelte sie herum und rannte durch den nun freien Weg vom Flussufer weg und unter der Brücke hervor. Ohne zu zögern oder sich umzublicken lief sie auf die steinerne Brücke hinauf. Dort war nun niemand mehr.

Das Ganze war so schnell geschehen, dass niemand sie aufhielt; die meisten Soldaten waren damit beschäftigt, ihren brennenden Kameraden zu helfen oder sie aus dem Fluss zu zerren.

Der weiße Ritter war regungslos an seinem Platz stehengeblieben, der Feuerball war wirkungslos an seiner Rüstung abgeprallt und erloschen. Nun trat er unter der Brücke hervor und sah der Zauberin nach. Sie hatte die Brücke überquert und hielt mit unverminderter Geschwindigkeit auf den Rôewanion-Wald am anderen Ufer des Flusses zu.

„Also ist es tatsächlich wahr“, murmelte er grimmig und sah zu dem jungen Mann in der schwarzen Priesterrobe hinüber, der einige Hundert Meter entfernt auf einem Pferd saß und sich auf ein kleines Stück Metall in seiner Hand konzentrierte.

3. Kapitel

Zielstrebig ging die Zauberin durch den Rôewanion-Wald. Weder die Dunkelheit noch die wilden Tiere konnten sie schrecken, denn beides ließ sich mit Feuer vertreiben. Sie wusste, dass ihre Zauberkraft nur beschränkt gegen Menschen wirksam war, da sie nicht genügend Kraft hatte, länger als wenige Minuten mit den feurigen Bällen zu werfen. Außerdem musste sie sich konzentrieren und manchmal, wenn sie zu müde oder aufgeregt war, gelang es ihr nicht, einen Feuerball zu formen. Es war ein wirksames Ablenkungsmittel und ließ sich gut gegen einen unvorbereiteten Feind einsetzen, doch Kriege ließen sich damit keine gewinnen.

Sie marschierte die ganze Nacht hindurch und gönnte ihrem Körper nur kurze Pausen, in denen sie sich bemühte, nicht einzuschlafen. Schlafen konnte sie später immer noch.

Die Anspannung der letzten Tage war etwas von ihr gewichen, denn nun war sie nicht mehr in Torgulin, dem Reich des Krähenmeisters, sondern im besetzten Nordteil ihrer Heimat, dem Königreich Hâlmoren. Und in diesem dichten Wald würden die feindlichen Soldaten sie trotz ihrer außergewöhnlichen Fähigkeit, Menschen aufzuspüren, nicht so leicht finden. Da war sie sich sicher.

Mehrere Tage lang wanderte die Zauberin durch den dichten Wald, immer in Richtung Süden. Sie mied alle Pfade und Wege und schlief nie mehr als wenige Stunden. Manchmal pflückte sie im Vorbeigehen ein paar Beeren oder Pilze, die sie roh verzehrte. Abends entzündete sie ein Lagerfeuer, achtete jedoch darauf, es niedrig zu halten. In einer Nacht überraschte sie ein Gmork, ein fliegendes Raubtier mit langen spitzen Krallen, doch mit einigen Feuerbällen vertrieb sie ihn schnell.

Seit sie in den Wald gelaufen war, war der kleine Gecko nicht mehr aus ihrer Tasche geklettert, doch schaute er mit seinen schwarzen Augen hinaus. Manchmal in der Nacht setzte sie das kleine Tier auf ihre Handfläche, betrachtete es nachdenklich und dachte an Kardana.  

Als der Morgen des sechsten Tages graute, erreichte sie den Waldrand und blickte auf das dahinter liegende Land. Das Licht der ersten Sonnenstrahlen erleuchtete die sanften Hügel und ausgetrockneten Bäche. In der Ferne konnte sie Schafherden sehen und Felder, auf denen die Bauern den ersten Weizen mähten. Und noch weiter dahinter erspähte sie in dem kleinen Tal die Stadt Maradanos, ihr Ziel. Die Frau blieb einen Augenblick stehen und ließ den Blick über die weite Landschaft schweifen. Obwohl sie seit zwanzig Jahren nicht mehr hier gewesen war, schien sich fast nichts verändert zu haben. Alles war noch so, wie sie es in Erinnerung hatte. Sie war überwältigt von ihrem Glücksgefühl und atmete tief ein. Mit plötzlicher Klarheit erkannte sie, wie sehr sie Maradanos vermisst hatte. Nun kehrte sie endlich zurück.

In ihren verdreckten Mantel gehüllt, das Gesicht grau vor Müdigkeit begann sie, auf die Stadt zuzugehen. Hier und da begegnete sie einem Bauern oder Reiter, die sie freundlich grüßten, aber in ihr natürlich nicht das kleine Mädchen erkannten, das im Alter von fünf Jahren fluchtartig die Stadt verlassen hatte.

Die Zauberin betrat die Stadt durch das Osttor und folgte der Hauptstraße ein Stück. Auch hier hatte sich kaum etwas verändert. Die enge Straße war immer noch voll von Karren und Reitern, vor dem Wirtshaus saßen einige ältere Männer auf einer Bank und tranken Bier aus großen Humpen. Sie passierte eine singende Gruppe Târhoun-Priester in ihren grauen Roben mit dem eingestickten dreifarbigen Trigon. Die Männer der Stadtwache patrouillierten in ihren roten und weißen Uniformen und nur die wenigen Soldaten mit dem Wappen des Krähenmeisters deuteten darauf hin, dass Maradanos eine besetzte Stadt war. 

Die Frau achtete kaum auf die Menschen um sich, während sie sich den Weg durch die überfüllten Straßen bahnte. Nur den Krähensoldaten ging sie weiträumig aus dem Weg. Schließlich verließ sie die Hauptstraße und bog in eine kleinere Gasse ein, in der die Handwerker lebten und arbeiteten. Sie ging an der Werkstatt eines Schusters vorbei, passierte einen Tischler und Messerschleifer und blieb schließlich vor einer Schmiede stehen.

Es war ein kleines, zweigeschossiges Haus mit abblätternder hellblauer Farbe, unter dessen Vordach ein gewaltiger Amboss stand. Daneben standen mehrere große Holzfässer mit Wasser, Kisten aus dicken Bohlen und ein Blasebalg an einer erkalteten Feuerstelle. Werkzeuge lagen keine herum, da der Schmied sie in der kleinen Werkstatt im Inneren des Hauses aufbewahrte. Die Zauberin stand eine Weile regungslos vor der Schmiede und betrachtete sie versonnen. Erinnerungen an eine kurze, aber schöne Kindheit wurden in ihr wach. Schließlich ging sie auf die Eingangstür des Hauses zu, öffnete sie und stieg die alte, knarzende Holztreppe hinauf, die zu einem der beiden Räume des Hauses führte.

„Wer da?“, fragte eine Stimme barsch von oben.

Die Frau hatte den obersten Treppenabsatz bereits erreicht und blickte dem Schmied direkt ins Gesicht. Er saß an einem kleinen Holztisch in der Ecke des Raumes und hielt einen Löffel mit Suppe in der Hand. Seine Gestalt war stämmig, mit muskulösen Oberarmen und einer spiegelnden Glatze. Doch seine Gesichtszüge waren fein und die hellblauen Augen freundlich und offen. Nun blickten sie jedoch vollkommen überrascht.

„Guten Tag, Vater“, sagte sie und ging auf ihn zu. Lange hatte sie ihn nicht gesehen und die Falten in seinem Gesicht waren neu. Ungläubig erhob er sich. „Noara, du bist zurück. Endlich!“

Er umschlang sie mit beiden Armen und drückte sie fest an sich.

„Ich habe mir solche Sorgen um dich gemacht. Ich bin so froh, dass du wieder da bist.“

Noara verbarg ihren Kopf an seiner breiten Brust und sagte mit tränenerstickter Stimme: „Ich bin auch froh, dich wiederzusehen, Vater.“

Es dauerte eine Weile, bis sich die beiden so weit beruhigt hatten, dass der Schmied seine Tochter losließ und ihr einen großen Teller Suppe schöpfte. Noara merkte erst jetzt, wie müde sie war, und setzte sich erschöpft an den Tisch.

„So, nun iss erst mal und dann musst du mir erzählen, wo du überall warst“, sagte der Schmied väterlich und stellte den Teller vor ihr ab. Sie nickte und begann hungrig zu essen. Er betrachtete sie liebevoll, ohne dabei ein Wort zu sagen. Seit einem Jahr hatte er seine Tochter nicht gesehen und die Sorge um sie hatte ihn jeden Tag begleitet. Noara nahm seine Hand und drückte sie zärtlich. Sie wollte ihn noch eine Weile in dem Glauben lassen, dass sie nun bei ihm bleiben würde. Am liebsten hätte sie genau das getan, doch es ging nicht. Sie musste weiter. Sie musste ihren Auftrag erfüllen, so wie sie es Kardana versprochen hatte. Ihre persönlichen Wünsche durften dabei keine Rolle spielen.

Während sie aß, fiel der Blick des Schmieds auf den Gecko, der seinen Kopf aus der Tasche des Mantels gestreckt hatte und nun vorsichtig daraus hervorkroch.

„Na, wer bist du denn?“, fragte der Schmied und nahm das kleine Tier in die Hand. Der Gecko quakte leise. Er hob ihn hoch und betrachtete den schmalen grauen Leib, die vier kräftigen Beine und den flachen Kopf mit den glänzenden schwarzen Augen.

„Ist das die Eidechse von Kardana?“, fragte er überrascht.

Noara nickte zwischen zwei Bissen und warf ihm einen vielsagenden Blick zu.

„Sie ist tot? Was ist passiert, hat der Krähenmeister sie erwischt?“

„Ja, leider. In unserer Gruppe war ein Verräter. Frantosch, der Falke. Erinnerst du dich an ihn?“

Der Schmied war bestürzt. „Falke? Wirklich, er war ein Verräter? Das kann ich kaum glauben.“

„Er hat den Männern des Krähenmeisters unser Versteck in den Bergen verraten.“

Noara stockte, die Erinnerung an die Ermordung ihrer Freundin und Lehrmeisterin schmerzte. „Der weiße Ritter hat sie getötet, und alle anderen auch. Alle außer mir.“

Behutsam setzte der Schmied den Gecko wieder auf den Boden und umarmte Noara. Das Tier quakte nochmals und fing dann an, den Raum zu erkunden. Noara blickte ihm durch einen Tränenschleier hinterher. Hier sah immer noch alles genauso aus, wie sie es in Erinnerung hatte. Neben dem Esstisch an der Wand stand der kleine Ofen, auf dem ihr Vater die Suppe gekocht hatte. Daneben standen der hölzerne Schrank und die Truhe, in der ihr Vater seine Habseligkeiten verwahrte. In der Ecke trennte ein grauer Vorhang das Bett ihres Vaters vom restlichen Raum ab.

Um sich abzulenken, fragte sie: „Was ist in Maradanos passiert, seit wir uns das letzte Mal gesehen haben?“

Der Schmied ließ sie los, schenkte ihnen beiden etwas Dünnbier ein und begann zu erzählen. „Ich bin kurz nach deiner Abreise aus Dûlawor hierher zurückgekehrt, wie wir es besprochen hatten. Es war alles noch genauso, wie wir es zurückgelassen haben, trotz der langen Zeit. Die Krähensoldaten kommen inzwischen nicht mehr so oft in unsere Stadt. Sie sind alle im Osten, wo Krieg geführt wird.“

Er blickte seine Tochter traurig an. „Aber darüber weißt du ja sicherlich mehr als ich.“

Sie musste lächeln, ihr Vater bemerkte es in der Regel, wenn sie ihm etwas zu verheimlichen suchte.

„Ich habe Nachrichten davon gehört“, sagte sie leichthin und gähnte ausgiebig. Es war nicht gespielt, sie war wirklich erschöpft.

„Ich sehe dir an, dass du nicht nur Nachrichten gehört hast, sondern mehr weißt“, sagte ihr Vater und runzelte die Stirn. Sie konnte ihm ansehen, dass er gerne weitergefragt hätte, doch offenbar sah sie zu müde aus.

Er stand auf und nahm ihre Hand. „Heute Nacht kannst du in meinem Bett schlafen. Morgen besorge ich noch eines.“

Noara nickte dankbar und schleppte sich zu dem Lager. Sie schlüpfte aus den verdreckten Kleidern und fiel auf die Strohmatte. Ihr Vater deckte sie mit dem weißen Leintuch zu und küsste sie liebevoll auf die Stirn.

„Schlaf gut, Noara.“

 

Sie hört die aufgeregten Stimmen, kann aber nicht verstehen, was sie sagen. Doch sie hört die Unruhe und die Angst darin. Eilige Schritte und dann Pferdegetrappel, Rufe, Kommandos. Ist das eine Fackel oder brennt das Haus? Feuer, überall Feuer.