Jon Cohen Der Krähenmeister
7. Kapitel

Als Noara wieder zu sich kam, war es schon dunkel. Sie lag auf ihrem Umhang neben einem Feuer, auf das Bär gerade ein paar kleine Äste legte. Die Rippen auf ihrer linken Seite schmerzten stark, als sie sich etwas bewegte. Bär hörte ihre Bewegung und wandte sich ihr lächelnd zu. „Noara, bist wach!? Wie fühlst dich?“

Sie sah sich um und nahm wahr, dass sie auf einer kleinen Waldlichtung lagerten. Syros war nirgends zu sehen.

„Wie komme ich hierher? Und wo ist Syros?“

Bär sah besorgt aus. „Hab’ dich hierhergetragen, nachdem der Kampf vorbei war. Haben es nur schwer geschafft, die Untoten abzuwehren und dich zu schützen.“

Er zögerte einen Moment. „Um Syros brauchst du dir keine Sorgen zu machen. Is’ losgezogen, um uns was zu essen zu besorgen.“

„Warum denn? Was ist aus unserem Proviant geworden?“

Bär setzte sich neben sie und strich ihr mit seiner riesigen Hand übers Haar. „Mussten alles zurücklassen. Waren kaum mit den Untoten fertig geworden, da hörte ich die Soldaten kommen. Näherten sich sehr schnell. War keine Zeit mehr, das Gepäck zusammenzusuchen. Und außerdem mussten wir dich ja tragen.“

Er hob einen Lederbeutel hoch, in dem sie einen kleinen Metalltopf, drei Holzschalen, den Feuerstein, einige Gewürze und ein Handbeil transportierten. „Den hatte ich noch umgehängt. Is’ leider alles, was wir retten konnten.“

Er lächelte traurig. „Keine Sorge, finden schon was zu essen. Jetzt sind wir ja auf dem Weg ins Tal. Hier wächst auch wieder mehr.“

Noara konnte kaum sprechen. Sie schämte sich, dass sie ihrem Freund so eine Last gewesen war. Außerdem war sie besorgt über den Verlust des Zeltes und des Proviants. Also stammelte sie: „Bär, ich weiß nicht, was ich ohne dich … ohne euch gemacht hätte. Danke, dass du mitgekommen bist.“

Bär lächelte schon etwas fröhlicher und begann, wie um seine Verlegenheit zu überspielen, noch ein paar Zweige zu sammeln. Plötzlich wirbelte er alarmiert herum, packte seinen langen Stock und bedeutete Noara still zu sein. Er verblieb einige Sekunden in kampfbereiter Stellung, atmete dann jedoch hörbar auf und flüsterte: „Is’ nur Syros.“

Noara wusste, dass Bär die Schritte von Personen erkannte, wenn er sie oft genug hörte. Tatsächlich kam einige Augenblicke später die Schlange aus dem Unterholz gestapft. Seine sonst so verschlossene Miene war einer sorgenvollen gewichen. Düster sagte er zu Bär: „Ich habe nur eine Handvoll Beeren, Pilze und Wurzeln gefunden. Morgen sollten wir versuchen zu jagen.“

Dabei hielt er Bär einen kleinen Beutel hin, den dieser entgegennahm und sich gleich daranmachte, die Wurzeln und Pilze in dem Metalltopf über dem Feuer zu kochen.

Syros sah Bär einen Augenblick zu und kam dann zu Noara. „Ich sehe, du bist wach. Hast ganz schön was abgekriegt, was?“

Er legte ihr prüfend eine Hand auf die Stirn. „Du hast immerhin kein Fieber. Soll ich mir deine Verletzung mal ansehen?“ 

Noara wusste, dass er sich in der Heilkunst auskannte und nickte stumm. Syros beugte sich über sie, knöpfte ihren Waffenrock auf und betastete sanft ihre schmerzenden Rippen. Kurz darauf sagte er: „Du hast Glück gehabt, mehrere Rippen sind gestaucht, aber nicht gebrochen. Du wirst ein paar Tage eingeschränkt sein. Morgen beim ersten Tageslicht suche ich dir ein paar Kräuter, um die Schmerzen zu lindern.“

Er knöpfte den Waffenrock wieder zu und warf einen raschen Blick zu Bär, der mit der Vorbereitung des Abendessens beschäftigt war. Dann sagte er sehr leise: „Danke, Noara! Du hast mir das Leben gerettet.“

Noara lächelte. „Gern geschehen, Schlange. Du hast mir geholfen, als ich vollkommen verzweifelt war. Ich bin glücklich, dass ich meine Schuld bei dir nun begleichen konnte.“

„Dein Leben war damals nicht in Gefahr“, sagte Syros, nun wieder mit seiner üblichen Stimme, doch sein Lächeln nahm dem Satz die Schärfe.

 

Nach einer Weile kam Bär mit den drei kleinen Schalen zu ihnen herüber und sie aßen die karge Mahlzeit aus Waldbeeren und gekochten Wurzeln. Noara merkte erst jetzt, wie hungrig sie war und schlang ihre Portion rasch hinunter. Dann fragte sie: „Was ist mit den Soldaten? Waren sie von der Krähenfestung?“

Syros nickte und Bär sagte: „Sind geflohen, bevor wir sie zu Gesicht bekommen haben. Aber wahrscheinlich schon. Schätze der Krähenmeister lässt seine Truppen hier im Grenzgebiet patrouillieren. Vielleicht fürchtet er, dass zu viele Freiwillige aus Hâlmoren sich nach Silamen durchschlagen, um den Widerstand zu unterstützen.“

Syros nickte. „Ich muss dem Fleischberg ausnahmsweise zustimmen. Ich denke auch, es waren Soldaten Torgulins.“

„Und die Untoten?“

Syros schnaubte: „Wie viele Nekromanten kennst du, die so etwas fertigbringen? Das waren mit Sicherheit auch Kreaturen des Krähenmeisters.“

Sie schwiegen eine Weile, dann sagte Bär zögernd: „Fürchte, es hilft nix. Müssen so bald wie möglich weiter. Die Soldaten patrouillieren hier im Grenzgebiet. Werden erst bei Lardon im Grimwald in Sicherheit sein.“

Es war ihm deutlich anzumerken, dass er mit Rücksicht auf Noaras Verletzung lieber noch einige Tage gerastet hätte.

„Wie gehen wir weiter?“, fragte die Zauberin, die von vornherein gar nicht den Verdacht aufkommen lassen wollte, dass sie nicht mehr weiterkönne.   

Syros dachte eine Weile nach. „Ursprünglich hatte ich vorgehabt, dem Pfad bergab zu folgen und dann zum Flößer Rachiel zu gehen. Ich kenne ihn von meinen früheren Reisen und er hätte uns auf die andere Seite des Du Nosil bringen können. Das ist jetzt aber nicht mehr möglich, da der Pfad offenbar bewacht wird.“

Er zog eine Grimasse. „Außerdem sind wir jetzt schon zu weit nach Süden gelaufen, um noch zu dem Flößer zu kommen. Wir verlieren mindestens eineinhalb Tage, wenn wir das alles wieder zurückgehen.“

„Aber wie kommen wir dann über den Fluss?“, wollte Bär wissen.

„Wie wäre es mit schwimmen?“, fragte Syros und grinste boshaft, als Bär schnaubend ansetzte. „Schwimmen über den Du Nosil? Bist ja wohl nicht ganz bei Sinnen, die Strömung is’ viel zu stark.“

Er zögerte kurz und fügte hinzu. „Außerdem kann ich nicht schwimmen. Und du vermutlich ebenso wenig, hm Syros?“

Syros zuckte die Achseln. „Wir haben im Grunde nur eine Möglichkeit. Etwas weiter südlich von hier gibt es am Fluss eine schmale Furt. Die müssen wir bei Nacht überqueren.“

Besorgt fragte Noara: „Was, wenn sie auch bewacht wird?“

Syros strich sich nachdenklich mit dem Finger durch das dunkle Haar. „Ich kenne keinen anderen Weg über den Fluss. Falls die Furt wirklich bewacht wird, müssen wir uns irgendetwas einfallen lassen. Wenn wir morgen früh aufbrechen, sind wir in etwa zwei Tagen im Tal und an der Furt. Danach sind es noch mehrere Tagesmärsche über die Ebene von Châm bis zum Grimwald.“

Sie unterhielten sich noch ein wenig, bis Bär schließlich vorschlug: „Sollten jetzt noch etwas schlafen. Syros, was hältst davon, dass wir beide uns mit der Wache abwechseln?“

Noara wollte protestieren, doch Bär sagte: „Wirst deine Kräfte noch brauchen, ruh dich aus.“

Erstaunlicherweise hatte auch die Schlange nichts dagegen einzuwenden, dass Noara keine Wache halten musste, und so legten er und die Zauberin sich um das kleine Feuer. Bär nahm auf einem umgestürzten Baumstamm Platz und hielt die erste Wache. 

 

Es war die schlimmste Nacht für Noara, seit sie aufgebrochen waren. Die Herbstluft war kalt und ohne das Zelt fror die Zauberin sehr. Ihre Rippen schmerzten und so sehr sie sich auch bemühte, es gelang ihr nicht, die Bilder von den Untoten aus ihrem Kopf zu verbannen. Im Halbschlaf wurde sie immer wieder von den grausamen Kriegern mit den starren, weißen Gesichtern attackiert. Nachdem sie so eine Weile dagelegen hatte, kam der graue Gecko von einem seiner Streifzüge im Wald zurück. Er rollte seinen kleinen Körper neben Noara ein, die nun endlich schlafen konnte.

Als der Morgen graute, wachte sie mit steifen Gliedern und Kopfschmerzen auf. Bär war schon aufgestanden und packte ihre spärlichen Sachen zusammen. Sowohl er als auch Syros wirkten vollkommen übermüdet. Schlecht gelaunt quälte Noara sich hoch und trank einen Schluck Tauwasser aus einer der Holzschalen am Boden. Sie fühlte sich vollkommen zerschlagen und am liebsten hätte sie sich sofort wieder neben der Glut des Feuers eingerollt und sich den Mantel über den Kopf gezogen. Bär reichte ihr den Drachenzahn, verzichtete aber auf eine Bemerkung, als er ihren Gesichtsausdruck sah. Stumm nahm sie das Schwert entgegen und gürtete es um. Es schien über Nacht noch schwerer geworden zu sein.    

Schlange hielt sein Versprechen und suchte für sie ein paar Kräuter zusammen, die er mit etwas Wasser in dem Eisentopf kochte. Noara, die ebenfalls kräuterkundig war, erkannte die Kräuter auf den ersten Blick und trank das gallenbittere Gebräu ohne Widerstand. Schon bald ließen die starken Schmerzen in ihren Rippen nach, sodass sie wandern konnte, und dadurch besserte sich auch ihre Laune beträchtlich.

Sie schritten den ganzen Tag kräftig aus und machten erst am späten Nachmittag Rast an einem kleinen Bach. Bär nutzte die Zeit, um einen langen, geraden Ast mit seinem Dolch anzuspitzen, und machte sich dann auf die Jagd nach etwas zu essen. Syros bereitete Noara derweil einen weiteren Kräuteraufguss, der ihre Schmerzen nochmals linderte. Der Magier sammelte ein paar trockene Äste und bedeutete Noara, sie mit einem Feuerball zu entzünden. Dann setzte er sich neben sie. „Wie fühlst du dich?“, fragte er. „Sind die Schmerzen stark?“

„Nicht mehr so sehr“, log sie tapfer, doch er deutete ihren Gesichtsausdruck richtig.

„Warum tust du dir das an? Was ist es, das du Lardon unbedingt verraten musst?“

Er blickte sie durchdringend an. „Wofür riskierst du dein Leben, Noara?“

Sie zögerte, spielte unschlüssig mit einem kleinen Ast. „Ich kann es dir nicht erzählen, Syros, so leid es mir tut. Lardon muss es zuerst erfahren. Es ist zu gefährlich.“

„Auch wir riskieren hier unser Leben für dich. Warum vertraust du uns nicht an, was wir hier genau machen?“

Noara sagte bestimmt: „Ich bin dir dankbar dafür, dass du uns führst. Ohne dich hätten wir es nicht bis hierhergeschafft. Wenn wir Lardon gefunden haben und ich mit ihm gesprochen habe, werde ich deine Fragen beantworten – zumindest einige davon. Bis dahin bitte ich dich um Geduld.“

Syros erhob sich verärgert. „Bär liebt dich Noara, so wie ein großer, dummer Bruder seine kleine Schwester liebt. Er würde dir überallhin folgen, ohne viele Fragen zu stellen. Doch ich, ich würde schon gerne wissen, was wir hier draußen eigentlich machen. Ich wäre fast von einem Untoten getötet worden, Ra-Ech!“

Nun wurde auch Noara ärgerlich. „Ich habe dich nicht gezwungen mitzukommen, Schlange. Als ich dich fragte, ob du uns zu Lardon bringen kannst, habe ich dir gesagt, dass ich dir nicht den Zweck unserer Reise mitteilen kann. Du hast das hingenommen. Warum?“

Er zuckte die Achseln, sein Ärger schien bereits wieder verflogen. „Was spielt das schon für eine Rolle.“

Ohne ein weiteres Wort ging er zum Bach und wusch sich seine Hände und das Gesicht. Noara blickte ihm nach.     

 

Nach wenigen Stunden, die Sonne war schon fast untergegangen, kam Bär mit einem erlegten Reh zurück, das die drei rasch zerlegten. Dann brieten sie die Fleischstücke über dem Lagerfeuer. Syros hatte offenbar beschlossen, ihren kleinen Streit zu vergessen, denn er erwähnte ihn mit keinem Wort mehr und verzichtete auch auf seine üblichen Sticheleien gegen Bär.

Der Duft nach gebratenem Fleisch besserte ihre Stimmung deutlich, und während er an seinem Stück Fleisch kaute, bemerkte Syros zufrieden: „Gar nicht so schlecht, dieses Reh. Unter normalen Umständen hätte ich es in einem Topf gekocht. Schön lange, versteht ihr, bis es so richtig zart ist und dann etwas gehackte Gelbwurzel drüber – nicht zu viel, damit es den Geschmack nur verstärkt, aber nicht übertönt.“

„Oho, sieh an. Wusst’ nich’, dass du so ein Meisterkoch bist. Warum müssen wir dann immer das Essen machen?“, fragte Bär belustigt. „Hättest uns einige besonders ‚delikate‘ Köstlichkeiten von Noara ersparen können.“

Syros grinste. „Stimmt! Weißt du noch, am ersten Abend? Die Suppe mit den Stückchen Kohle drinnen?“

Noara lachte. „Das war Brot, du Esel.“

Nachdem sie aufgegessen hatten, legten sie noch etwas Holz auf das Feuer und Bär begann leise eine alte Volksweise auf Torgú zu singen. Er hatte eine schöne Stimme und selbst Syros schien es zu gefallen. Bär brachte ihnen den Refrain bei und so sangen sie die fremden Worte zusammen. Für Noara hatte Torgú immer einen bedrohlichen Unterton gehabt, doch in dieser Nacht wirkte die Sprache sanft und beruhigend.

„Du klingst wie eine rostige Säge“, sagte sie zu Syros, als sie aufgehört hatten zu singen.

Er streichelte den Gecko, der sich neben ihm auf einen vom Feuer angewärmten Stein gesetzt hatte, und gab feixend zurück. „An dir ist auch nicht gerade ein Kantor verloren gegangen. Meine Ohren bluten.“

Sie warf einen Kiesel nach ihm, traf aber nur den Gecko am Schwanz, der erschrocken aufsprang und dann beleidigt davonlief.    

 

Als sie sich für die Nacht bereitmachten, bestand Noara darauf, die erste Wache zu übernehmen, und ihre Gefährten willigten nach kurzem Widerstand ein.

Also setzte sich die Zauberin auf einen flachen Stein, ihr Schwert griffbereit, und starrte in den kleinen Bach. Sie musste an Kardana denken, die ihr nicht nur eine Lehrmeisterin, sondern auch eine enge Vertraute gewesen war. In den letzten acht Jahren hatte Noara sehr viel Zeit mit der alten Frau verbracht und viel von ihr gelernt. Doch nun, da sie tot war, erkannte Noara, dass sie eigentlich wenig über Kardana persönlich wusste. Hatte sie ihr mit Absicht nie viel von sich erzählt? Je mehr sie darüber nachdachte, desto sicherer war sich Noara, dass auch die anderen aus ihrer Gruppe ihre alte Anführerin nicht wirklich gekannt hatten. Ihr Charisma und ihre Überzeugungskraft hatte die kleine Truppe in ihren Bann gezogen, doch der Mensch hinter Kardana war ihnen bis zum Schluss verborgen geblieben. Nun war es zu spät, um sie zu fragen und alles, was von ihr geblieben war, war eine vage Erinnerung. Und der Gecko, dachte Noara, und betrachtete ihren kleinen Begleiter, der sich wieder neben ihr niedergelassen hatte. Sie wünschte, sie könnte mit ihm sprechen, erfahren, was er wusste. Doch für sie blieb er stumm.

8. Kapitel

Gegen Abend des nächsten Tages waren sie in der Nähe des großen Flusses, dem Du Nosil, angekommen. Schon lange bevor sie den Fluss überhaupt zu Gesicht bekamen, sagte Syros: „Die Furt wird bewacht. Ich spüre drei Männer dort. Sie langweilen sich und sind gereizt.“

Er hörte weiter in sich hinein: „Vermutlich sind sie schon seit mehreren Tagen dort. Daneben spüre ich aber auch noch etwas anderes in ihnen … ich glaube, es ist Angst.“

„Angst? Wovor?“, fragte Noara.

„Ich weiß nicht. Ich habe das Gefühl, etwas anderes bewacht noch mit ihnen die Furt. Etwas, das ich nicht richtig erspüren kann.“

„Meinst Untote?“, ließ Bär besorgt vernehmen.

„Schon möglich. Könnte aber auch etwas anderes sein, wir werden es erfahren“, gab Syros gereizt zur Antwort.

„Spürst du noch andere Menschen in der Nähe?“, fragte Noara.

„Nein, gerade nicht. Wenn wir uns beeilen, müssen wir vielleicht nur mit diesen dreien fertig werden.“

„Und mit dem, was sie so ängstigt“, brummte Bär. Es war deutlich, dass ihm der Gedanke überhaupt nicht behagte, mit einem weiteren dunklen Wesen der Krähenfestung Bekanntschaft zu schließen.

Syros grinste maliziös. „Keine Sorge. Ich bin zuversichtlich, dass es nichts ist, wovor du dich fürchten musst, Bär. Ich bin ja bei dir.“

Bär schob ihn zur Seite, zwinkerte Noara kurz zu und ging weiter. Noara folgte ihm. Sie fühlte sich müde und angespannt, voller Unruhe über das, was sie an der Furt erwarten würde. Ihre Rippen schmerzten wieder stärker, doch sie biss die Zähne zusammen und ignorierte das Gefühl so gut es ging.

Nach etwa zwei Stunden verlangsamte Syros, der wieder die Führung übernommen hatte, seine Schritte. Sie waren nun in den letzten Ausläufern der Berge. Endlich sahen sie den Fluss. Der Wald, der dieses Ufer des Du Nosil bedeckte, war hier etwas lichter, und durch eine natürliche Schneise konnten sie im letzten Sonnenlicht das schillernde Band des breiten Flusses sehen. Obgleich er hier im Süden etwas schmaler war als an der Grenze zu Torgulin, wo Noara ihn das letzte Mal überquert hatte, war der Du Nosil immer noch ein gewaltiger Strom.

Während sie sich dem Fluss näherten, bat Noara Syros erneut in sich hineinzuspüren, ob nicht doch noch andere Soldaten in der Nähe waren. Er schüttelte den Kopf, es schien sich nichts an seiner Wahrnehmung geändert zu haben. Beklommen dachte Noara daran, wie weit sie und Bär ihr Schicksal in seine Hand gelegt hatten.

Bär schien es ähnlich zu gehen, denn auch er horchte aufmerksamer als sonst die Umgebung ab. Der Riese war gespannt wie eine Bogensehne und sehr wachsam. 

Endlich, als es schon dunkel war, waren sie im Gestrüpp vor der Furt angekommen. Leise bewegten sich die drei durch das Unterholz und spähten vorsichtig hinaus. Sie konnten ein Lagerfeuer sehen, das im Kiesbett vor der Furt entfacht worden war, und vier Schemen davor. Sie waren jedoch zu weit entfernt, um die Stimmen der Bewacher zu hören. Dahinter sahen sie undeutlich einige kleine Zelte und mehrere Pferde, die unruhig schnaubten.

„Was spürst du?“, flüsterte Noara der Schlange zu.

„Drei Männer. Sie sind müde und ängstlich. Aus irgendeinem Grund kann ich aber den vierten nicht erspüren“, murmelte Syros.

„Was bedeutet das?“

„Ich denke, dafür kann es nur einen Grund geben. Der Vierte ist entweder nicht menschlich oder es ist ein Garlock.“

Noara und Bär sogen überrascht die Luft ein.

Ein Garlock, nicht das auch noch, dachte Noara entsetzt.

Die Garlocks waren die Zauberer der Krähenfestung. Sie waren einst Târhoun-Priester gewesen, hatten sich dann jedoch zum Ra-Ech-Kult zusammengeschlossen und die dunklen Mondpraktiken gelernt. Für gewöhnlich dienten sie ihrem Herrn als Berater, aber auch als Folterknechte, da sie über ein schier unerschöpfliches Repertoire an Methoden verfügten, anderen Wesen Schmerzen zuzufügen. Doch manchmal setzte der Krähenmeister sie auch außerhalb seiner Festung ein.

„Was machen wir jetzt?“, fragte Bär.

„Wir schicken dich vor und warten, bis die vier mit dir beschäftigt sind, dann können Noara und ich über die Furt“, zischte Syros. „Dann hätten wir gleich zwei Fliegen mit einer Klappe geschlagen.“

Das war zu viel für Noara. „Halt deinen Mund, Schlange. Wir gehen entweder alle drei über die Furt oder gar keiner. Und lass endlich Bär in Ruhe!“

„Ach, wie nett. Du hast eine starke Beschützerin, mein Kleiner“, spottete Syros an Bär gewandt.

Doch Bär ließ sich schon seit einiger Zeit nicht mehr provozieren.

„Wenn wir dich nich’ brauchen würden, hätte dich schon am ersten Tag erwürgt. Aber in den letzten Tagen hab’ ich festgestellt, dass ein guter Kamerad bist. Trotz deines miesen Charakters. Schlag vor, überlegen jetzt gemeinsam, wie wir über die Furt kommen“, sagte er gelassen und legte der aufgebrachten Noara eine Hand auf die Schulter.

Seltsamerweise verzichtete Syros auf eine bissige Antwort und einen Augenblick schien es, als sei er gerührt. Doch sofort verwandelte sich sein Gesicht wieder in eine undurchdringliche Miene.

„Ich habe eine Idee, wie wir über den Fluss kommen“, sagte Noara, nachdem sie sich wieder etwas beruhigt hatte.

„Syros, kannst du dafür sorgen, dass die drei Menschen zu sehr mit sich selbst beschäftigt sind, um viel von dem wahrzunehmen, was um sie herum geschieht?“

„Sicher, aber was hast du vor?“

Rasch erklärte Noara den beiden Männern ihren Plan. Als sie geendet hatte, sagte Bär: „Das könnt’ klappen. Pass auf den Garlock auf. Kann dich zwar nich’ spüren, aber wenn er dich sieht, bist verloren.“

Noara nickte, nahm den Gecko und legte sich auf den Boden. Dann robbte sie auf allen vieren unhörbar durch das Unterholz und zum Fluss hinüber. Sie war weit genug von den Bewachern entfernt, sodass sie diese weder richtig sehen noch ihre Stimmen hören konnte. Sie sah nur das kleine Feuer in der Dunkelheit leuchten.

Sie warf einen kurzen Blick zurück zu ihren Freunden. Syros hatte die Augen geschlossen und murmelte leise Zauberworte. Ein schwaches Glimmen ging dabei von seinem Kopf und seinen Händen aus. Noara wusste, dass Syros nicht nur die Gefühle anderer Menschen spüren, sondern sie auch etwas verstärken konnte. Da ihm das gewaltige Anstrengungen abverlangte und auch nur bei Menschen möglich war, die selbst über keine Zauberkräfte verfügten, setzte Syros diese Gabe selten ein. Doch nun war ein guter Zeitpunkt dafür.

Sie robbte weiter, bis sie am steinigen Ufer des Flusses angelangt war. Unhörbar richtete sie sich auf, drehte der Furt und ihren Bewachern den Rücken zu und ging ein paar Schritte in den Fluss hinein. Der Gecko blieb am Flussufer stehen und schaute ihr zu. Als das Wasser ihr bis zu den Knien reichte und die starke Strömung an ihren Kleidern zerrte, blieb Noara stehen und sammelte sich kurz. Als Jugendliche hatte sie viel mit ihrer Fähigkeit Feuerbälle zu erzeugen experimentiert und herausgefunden, dass diese sehr stark mit Wasser reagierten. Sie konzentrierte sich und ließ dann einen kleinen, aber starken Feuerball aus ihrer Handfläche schießen. Zischend verlöschte der Feuerball auf der Wasseroberfläche und eine kleine Nebelschwade bildete sich.

„Na, das läuft doch hervorragend“, flüsterte sie dem Gecko zu, der am Ufer stehen geblieben war. Sie warf ein paar weitere starke Feuerbälle auf das Wasser, achtete aber darauf, das Feuer immer mit ihrem Körper vor den Krähensoldaten weiter flussabwärts zu verdecken. Wie erhofft dauerte es nicht lange, bis sich ein dichter Nebel gebildet hatte, der Geräusche verschluckte und sich durch die Strömung und den leichten Wind rasch flussabwärts bewegte.

Nach einer Weile merkte Noara, wie ihre Zauberkraft allmählich versiegte, und beschloss, dass der Nebel nun dicht genug war. Mit raschen Handgriffen drehte sie ihr langes Haar zu einem Dutt zusammen und befestigte es mit einem Lederband. Dann ging sie zu dem Gecko zurück und schob ihn vorsichtig unter den Dutt auf ihrem Hinterkopf, so dass er von ihren Haaren und dem Band gehalten wurde. Die Strömung des Du Nosils war viel zu reißend für ihren kleinen Gefährten und sie wollte nicht riskieren, ihn in der Dunkelheit und im Nebel zu verlieren.

Sie stieg nun komplett in den Fluss und wurde sogleich von der starken Strömung erfasst, die sie rasch der Furt und dem Feuer der Bewacher näherbrachte. Der dichte Nebel hatte sich inzwischen weit ausgebreitet. Er verbarg die schwimmende Zauberin vollkommen. Als sich Noara der Furt näherte, vernahm sie anfangs noch leise, dann immer lauter die zornigen Stimmen der Soldaten am Feuer. Sie stritten sich heftig.

Gut gemacht, Schlange, dachte sie zufrieden.

Die lauten, aufgebrachten Männer wurden immer wieder unterbrochen von der krächzenden Stimme des Garlocks, der abwechselnd versuchte, die Männer durch wüste Drohungen vom Streiten abzuhalten, oder ihnen unter Verwünschungen durch Zauberkraft Schmerzen zufügte. Doch beides half nichts, denn die Soldaten wurden nur noch wütender und stürzten sich schließlich sogar auf den Garlock. Dieser wusste sich wohl zu wehren, wollte die Männer aber offensichtlich auch nicht ernsthaft verletzen.

Die Strömung hatte Noara bis zur Furt getragen, wo das Wasser nur etwa hüfthoch floss. Geräuschlos glitt sie an den Soldaten und dem Garlock vorbei, die immer noch viel zu sehr mit sich selbst beschäftigt waren, um auf den ungewöhnlich rasch aufgetretenen Nebel zu achten. Sie ließ sich von der Strömung noch ein Stück über die Furt tragen und stemmte dann ihre Beine in das Kiesbett, um ihren Körper abzubremsen. Dann schwamm sie in dem hüfthohen Wasser über der Furt auf die andere Seite des Flusses und ließ sich erschöpft in den Uferschlamm fallen. Sie gönnte sich eine kurze Atempause, bevor sie sich aufrichtete und den Fluss nach ihren Gefährten absuchte.

 

Während Noara den Nebel erzeugte, hatte Bär ein großes Stück Holz aus dem Wald gezerrt und mit Syros’ Hilfe schleppte er es nun im dichten Nebel zum Fluss. Der Magier wirkte müde, der Zauber hatte ihn sehr verausgabt.

„Hat gute Arbeit geleistet. Man sieht seine Hand vor den Augen nich’“, flüsterte Bär Syros zu, der grimmig erwiderte: „Ich bin mal gespannt, ob sich der Garlock von so ein bisschen Nebel täuschen lässt.“

„Hm, der wird schon damit beschäftigt sein, seine Begleiter zu zügeln“, meinte Bär und grinste.

So leise wie möglich schleppten sie das Stück Holz zum Fluss und ließen es hineingleiten.

„Wenn wir wenigstens schwimmen könnten. Dann wär’ alles einfacher“, sagte Bär.

„Sill jetzt, verdammt!“

Die beiden ließen sich in das Wasser und klammerten sich an das Stück Holz, das von der starken Strömung sofort erfasst und mit ihnen weggetragen wurde.

Angespannt wartete Noara inzwischen im Schlamm vor der Furt liegend auf die beiden Männer. Sie konnte die Soldaten auf der anderen Uferseite immer noch streiten hören, doch zu ihrer Besorgnis lichtete sich der Nebel rasch.

Wo bleiben die nur so lange, fragte sie sich aufgewühlt. Ihre Rippen schmerzten wieder stärker und sie fror in der kalten Nachtluft. Endlich konnte sie einen dunklen Schemen erkennen, der sich rasch näherte. Es waren Bär und Syros, die sich an ein großes Stück Treibholz klammerten. Mit einem unangenehmen Schaben drückte die Strömung das Stück Holz mit seiner schweren Last auf das Kiesbett der Furt.

„Der Nebel lichtet sich, wir müssen schnell rüber“, hörte sie Syros flüstern, und die beiden Männer ließen den Stamm los. Mit einem besorgten Blick auf das Lagerfeuer der vier Bewacher, das man mittlerweile schon deutlicher sehen konnte, deutete Syros auf die andere Seite des Flusses, wo Noara schon ungeduldig auf sie wartete. Schwerfällig begannen die beiden Männer auf allen vieren auf der Furt durch das Wasser zu robben. Sie waren fast bei Noara angelangt, als die scharfe Stimme des Garlocks durch die Nacht schnitt. „Habt ihr euch endlich wieder eingekriegt, ihr Schwachköpfe. Irgendetwas stimmt hier nicht. Ausschwärmen und nachsehen!“

Hastig robbten Bär und Syros weiter, während der Nebel sich immer weiter verzog und zwei der Soldaten auf die Furt zugingen. Sie trugen brennende Fackeln. Der Garlock und der andere Soldat gingen in die andere Richtung.

Endlich hatten Bär und Syros Noara erreicht und gemeinsam robbten sie so schnell sie konnten weiter vom Fluss weg. Syros warf einen raschen Blick zurück und deutete dann angsterfüllt auf den Boden. Die beiden Soldaten hatten die Mitte des Flusses erreicht und schwenkten ihre Fackeln. Sie waren nun nahe genug, um Bewegungen auf der anderen Seite wahrzunehmen. Bär und Noara verstanden sofort, was Syros meinte, legten sich flach auf den Boden und drückten den Kopf hinunter. Noara wagte es kaum Luft zu holen, während sie ihren Körper auf den feuchten Boden presste. Sie bemühte sich, ihre aufsteigende Panik zu unterdrücken und konzentrierte sich auf den Geruch von modrigem Holz und nasser Erde. Die Soldaten machten ihr keine Angst, sehr wohl aber der Garlock. Sie hatte schreckliche Geschichten von den dunklen Zauberpraktiken und Fähigkeiten dieser Menschen gehört. Weder ihre Feuerbälle noch der Drachenzahn würden ihr im Kampf mit dem Garlock viel helfen, vermutete sie. Dennoch umklammerte sie das Heft ihres Schwertes mit tauben Fingern.

Die Schritte der Soldaten näherten sich ihnen, sie konnte die patschenden Geräusche hören, während sie durch die Furt wateten. Noara riskierte einen kurzen Blick nach oben und sah die Soldaten näherkommen. Sie waren nur noch etwa zwanzig Schritte entfernt und hielten ihre Fackeln über dem Kopf. Nur noch wenige Schritte und die Soldaten würden sie entdecken. Noara griff ihr Schwert noch fester, machte sich bereit, es zu ziehen und aufzuspringen.

Doch die Soldaten gingen nicht weiter, blieben mitten auf der Furt stehen. Plötzlich unschlüssig geworden schwenkten sie ihre Fackeln von links nach rechts. Ein Seitenblick auf Syros genügte der Zauberin, um den Grund für das zögerliche Verhalten der Soldaten zu erkennen. Syros Kopf glomm wieder leicht. Dann sahen sie die Soldaten kehrtmachen und einer von ihnen rief mit unruhiger Stimme: „Hier drüben ist niemand. Alles in Ordnung.“

Sie stapften zurück zu ihrem Lager auf der anderen Flussseite und dem Garlock, der sich offenbar damit zufriedengab und wieder am Feuer Platz nahm.