Jon Cohen Der Krähenmeister
4. Kapitel

Es war still und dunkel in diesem Teil der Stadt. Anders als im Rest von Maradanos, der sauber und gepflegt war, stank es hier nach Unrat und modrigem Wasser. Die Zauberin störte sich jedoch nicht an dem Geruch. Unhörbar ging sie durch das Elendsviertel. Die Hütten, die hier standen, waren aus Holzresten zusammengezimmert worden und standen windschief aneinandergereiht. Zwischen ihnen verliefen schmale, ungepflasterte Pfade, die durch nichts erleuchtet wurden. Um diese Zeit war niemand zu sehen. Die Bewohner des Viertels versteckten sich nachts lieber in ihren Hütten, um nicht zum Opfer der marodierenden Banden oder der Willkür der Krähensoldaten zu werden.

Noara hatte sich eine Nacht Ruhe gegönnt und den Tag mit ihrem Vater verbracht. Sie hatten sich lange unterhalten und sie hatte ihm alles anvertraut. Selbst ihre Aufgabe. Noara wusste, dass sie ihrem Vater bedingungslos vertrauen konnte und dass die Nachricht bei ihm sicher war. Außerdem war er selbst ein Teil des Geheimnisses, kannte seine Geschichte und verstand, was auf dem Spiel stand. Glücklich war er nicht gewesen, dass sie nun schon wieder aufbrechen musste, doch er hatte keine Sekunde versucht, sie aufzuhalten. Der Schmied wusste, dass Noara sich dieser Aufgabe voll und ganz verschrieben hatte und es nun eilig hatte, sie zu erfüllen. Bevor es zu spät war.

 

Vorsichtig bahnte sich Noara einen Weg durch die verwinkelten Pfade des Viertels. Für die Mission, die vor ihr lag, brauchte sie die Hilfe von zwei Männern, und einer davon wohnte hier im Elendsviertel. Sie hatte seine Hütte fast erreicht, als sich plötzlich eine große Hand auf ihren Mund legte. Eine raue Stimme flüsterte dicht an ihrem Ohr in Hâlmorisch mit schwerem Torgú-Akzent: „Na, wen haben wir denn hier? Wer schleicht da so leise durch die Nacht?“

Sie zuckte erschrocken zusammen, wehrte sich aber nicht. Die Hand lockerte sich ein wenig und sie krächzte: „Bär, ich bin es. Noara!“

Ihre Worte zeigten augenblicklich Wirkung. Der Mann ließ sie los und als sie sich umdrehte, sagte er gerührt: „Bei Sésh, du bist’s. Freu’ mich so, dich zu sehen. Wussten nich’, ob noch lebst.“

Bär war ein riesiger Mann Ende vierzig mit zotteligen braunen Haaren und einem dichten Bart. Er war noch kräftiger als der Schmied, hatte riesige Hände und breite Schultern. Er trug ein mehrmals geflicktes Hemd aus Leinen und weite Pluderhosen aus Wolle.

„Du bist immer noch der einzige, der mich gehen hört“, sagte Noara und grinste breit. Dann umarmte sie ihren alten Freund und er drückte sie fest an sich.

„Komm in meine Hütte, dann können wir reden“, sagte er schließlich, als sie sich voneinander lösten, und ging voraus.

Seine Hütte war ein winziger hölzerner Verschlag, der nur aus einem einzigen Raum bestand. Sie war karg, aber ordentlich eingerichtet und sauber. Leichtfüßig folgte Noara dem riesigen Mann und ließ sich auf einem der Holzstühle an seinem Tisch nieder.

Bär goss etwas verdünntes Bier in zwei Humpen und stellte einen davon vor ihr ab. „Wo warst die ganze Zeit? Dein Vater und ich sind vor zehn Monaten hierher zurückgekommen. Hab’ ihn bestürmt mir zu sagen, wo du geblieben bist. Aber hat nix verraten. Bist mit Kardana und den anderen in Dûlawor geblieben?“

Sie trank einen Schluck Bier und genoss den herben Geschmack. „Bär, ich kann dir leider nicht viel davon erzählen. Entschuldige! Aber das hole ich nach, sobald ich kann, das verspreche ich.“

Bär seufzte. „Das hab’ ich schon befürchtet. Kardana benutzt dich für ihre Zwecke. Pass auf mit ihr, Noara, sie is’ gefährlich.“

„Das ist es nicht, Bär. Sie hat getan, was notwendig war, und ich habe ihr dabei geholfen. Aber jetzt ist sie tot.“

Er schluckte schwer. „Kardana is’ tot? Was is’ geschehen?“

Stockend erzählte sie ihm in groben Zügen was vorgefallen war.   

Dann fragte sie: „Hast du Neuigkeiten von Lardon?“

„Hab’ viele Nachrichten aus dem Osten gehört in den letzten Wochen, ja. Es heißt, dass Lardon sich mit seinen Leuten im Grimwald versteckt hält.“

Als die Zauberin erschrocken nach Luft schnappte, grinste Bär freudlos. „Seit der Entführung von König Noram und dem Fall von Madors Rej ist die Lage beinahe hoffnungslos geworden.“

Noara nickte bedrückt. Irgendwie hatte es der Krähenmeister vor über vier Monaten fertiggebracht, Silamens König aus seinem Palast heraus entführen zu lassen. Niemand wusste, wo König Noram nun war und ob er noch lebte.

Bär fluchte laut, trank einen mächtigen Schluck Bier und fuhr fort. „Der Krähenmeister erhöht immer mehr den Druck, um endgültig mit den Resten der silamenischen Armee aufzuräumen. Sieht schlecht aus für Lardon.“

Noara blickte ihren Freund lange an. „Bär, ich brauche dich. Ich brauche unbedingt deine Hilfe.“

Bär starrte auf den Tisch vor sich. „Weißt, dass ich dir überallhin folgen würde. Wofür brauchst mich?“

„Ich muss zu Lardon, so schnell wie möglich. Die Zukunft von Silamen hängt davon ab, ob wir ihn rechtzeitig erreichen.“

Bei diesen Worten wurde Bär unruhig.

„Willst nach Silamen? Was musst Lardon denn mitteilen?“

„Ich habe etwas erfahren, dass er unbedingt wissen muss“, erwiderte Noara ausweichend.

Sie zögerte. „Bär, du weißt, dass ich dir vertraue! Doch es ist besser, wenn du davon so wenig wie möglich weißt, falls wir in die Hände des Feindes geraten.“

Bär nickte. Er kannte die Armee Torgulins gut genug, um das zu verstehen. „Wimmelt nur so von Soldaten der Krähenfestung in Silamen. Wie willst hinkommen?“

Ohne zu zögern, erwiderte die Zauberin: „Direkt von hier, über die Roten Berge und dann über den Du Nosil. Das ist der kürzeste Weg.“

„Noara, das schaffen wir nich’ zu zweit“, warf Bär ein. „Falls wir über die Berge kommen, werden sie uns spätestens am Fluss schnappen. Alle Brücken werden bewacht.“

Er stutzte einen Augenblick, dann fügte er hinzu: „Außerdem, wie stellst dir das vor? Man kann nicht einfach über das Rote Gebirge gehen. Dafür bräuchten wir einen Führer, der den Weg kennt.“

Sie lächelte. „Oh ja, den werden wir brauchen. Ich habe da auch schon jemanden im Sinn. Du kennst ihn, er wird uns hoffentlich auch noch bei anderen Dingen behilflich sein.“

Bär überlegte eine Weile. „Wen meinst du?“

Armer Bär, dachte Noara und musste ein Grinsen unterdrücken.

„Wir werden Syros mitnehmen.“

Bär verschluckte sich fast an seinem Bier. „Willst Syros mitnehmen? Die Schlange? Diesen aufgeblasenen Lügenbeutel. Das kann nich’ dein Ernst sein.“

Noara nahm die Pranke des Mannes in die Hand und sagte leise: „Bär, ich weiß, er kann schwierig sein, aber wir werden ihn brauchen. Bitte hilf mir, ich schaffe das nicht allein.“

Gereizt knurrte Bär: „Kann ihn nich’ ausstehen. Außerdem trau’ ich ihm nich’.“

Als sie darauf nichts erwiderte und ihn einfach schweigend ansah, seufzte Bär. „Wann brechen wir auf?“

5. Kapitel

Ein schneidender Wind wehte den drei Wanderern das Haar ins Gesicht, während sie den schmalen steinigen Pfad zum Gipfel entlangschritten. Noara, die als letzte ging, atmete pfeifend unter dem Gewicht ihres Gepäcks. Sie trug einen schlichten schwarzen Waffenrock unter ihrem wollenen Umhang, schwarze Hosen und hohe Lederstiefel. Auf ihrem Rücken hatte sie ihr Bündel geschnallt, in dem Verpflegung und etwas Kleidung eingebunden waren. An ihrem Gürtel hingen ein langes Schwert und ein Dolch. Das Schwert hatte sie von ihrem Vater bekommen, er hatte es selbst geschmiedet. Als er gehört hatte, dass sie schon so bald aufbrechen wollte, hatte er sie in seine Werkstatt gebeten und aufgefordert, sich ein Schwert auszusuchen. Ihre Wahl war schließlich auf das lange, zweischneidige Schwert mit der schmalen Klinge gefallen. Es schimmerte schwarz-bläulich, denn ihr Vater hatte es aus dem seltenen Nachtstahl geschmiedet. Der Griff war mit weichem Leder umwickelt und lag gut in der Hand.
„Eine hervorragende Wahl“, hatte der Schmied gesagt und das Schwert nachdenklich in der Hand gewogen. „Dieses Schwert ist leicht, aber so hart wie ein Stein und scharf wie ein Drachenzahn.“
„Drachenzahn, guter Name für ein Schwert“, hatte Noara erwidert und die Klinge mit dem Daumen geprüft.
Nun, nachdem sie schon seit mehreren Tagen unterwegs waren, schien die leichte Waffe jedoch deutlich an Gewicht zugelegt zu haben, dachte Noara mit zusammengebissenen Zähnen, während sie sich den steilen Gebirgspfad hochquälte. Hinter ihr lief der graue Gecko, dem der kalte Wind nichts auszumachen schien. Vor ihr stapfte Bär, einen großen Stock in der Hand. Andere Waffen brauchte der riesige Mann nicht. Die kleine Gruppe wurde von einem hageren Mann in einer schwarzen Robe angeführt. Syros, die Schlange, hatte dunkle, lange Haare und ein scharfgeschnittenes Gesicht mit schräg liegenden funkelnden Augen. Er trug keine Waffen, denn er benutzte sie nicht gerne, und sein Gepäck hatte er Bär auf den Rücken geschnallt.
„Ich werde kein Pfund tragen! Wenn ihr damit nicht einverstanden seid, könnt ihr jemand anderen bitten, euch den Weg zu weisen“, hatte er mit scharfer Stimme verkündet, als Noara und Bär ihn um seine Hilfe gebeten hatten.
Natürlich wusste er, dass es keinen anderen in Maradanos gab, der die Aufgabe übernehmen würde. Noara war klar gewesen, dass es schwierig werden würde, Syros zu überzeugen. Sie war dann geradezu überrascht gewesen, wie schnell er zugesagt hatte, sie über die Berge zu Lardon in Silamen zu führen. Er hatte ihr viele Fragen gestellt, warum sie diese gefährliche Reise auf sich nehmen wollte und auch keinen Hehl daraus gemacht, dass er es für keine gute Idee hielt. Doch obwohl sie auf die meisten seiner Fragen nur ausweichend geantwortet hatte, hatte Syros eingewilligt.
Während sie sich den steinigen Weg hochquälte, musste Noara an Kardanas Ehemann und ihre Tochter denken. Am Tag vor ihrer Abreise hatte sie den beiden einen langen Brief geschrieben, in dem sie ihnen vom Tod Kardanas berichtete. Ihr Vater würde den Brief dem Boten mitgeben, der einmal im Monat nach Süden ritt und Post in den freien Teil des Königreichs übermittelte. Sie hätte die Nachricht lieber persönlich überbracht und fragte sich, wie Kardanas Familie es wohl aufnehmen würde. Doch sie hatte keine Zeit, nach Dûlawor zu reisen.

Als die Nacht hereinbrach, führte Syros die Gruppe zu einer kleinen Felshöhle.
„Hier werden wir die Nacht verbringen“, sagte er und grinste boshaft. „Du kannst ja schon mal anfangen, das Zelt aufzuschlagen, Bär.“
„Und was tust du währenddessen?“, knurrte Bär, der seinen Abscheu vor der Schlange kaum verbergen konnte.
„Ich sehe Noara dabei zu, wie sie das Feuer macht und uns etwas zu Essen bereitet“, war die gelassene Antwort.
Wie zu erwarten, wurde Bär sofort wütend: „Treib’s nicht zu weit, Syros. Es sei denn, du möchtest einen gebrochenen Arm haben. Damit endlich eine vernünftige Ausrede für deine Faulheit hast.“
„Wage es bloß nicht, mir zu drohen, du zotteliger Fleischberg …“
Noara, die keuchend und nach Luft ringend die Höhle erreicht hatte, unterbrach ihn bestimmt. „Schluss jetzt, ihr beiden! Ich kümmere mich um das Feuer und das Essen. Hört auf zu streiten.“
Sie lud ihr Gepäck ab und begann, etwas trockenes Holz zu sammeln. Bär gab sich sichtlich Mühe, seine Wut hinunterzuschlucken und errichtete das Zelt. Syros setzte sich tatsächlich auf einen großen Stein und sah den beiden zu. Inzwischen hatte es angefangen zu regnen und der eisige Wind hatte noch an Stärke gewonnen. Noara setzte den Gecko in ihre Tasche, streichelte ihm über den Kopf und schichtete etwas trockenes Holz auf. Mit einer raschen Bewegung warf sie einen großen Feuerball auf die Äste und beobachtete zufrieden, wie sie sofort anfingen zu brennen. In Situationen wie diesen war es gut, eine Zauberin zu sein, auch wenn sie sonst über keine weiteren Fähigkeiten verfügte. Mit einem Blick auf Syros dachte sie, wie ekelhaft er sich doch benehmen konnte. Doch sie hatte keine andere Möglichkeit gesehen, über die Berge zu kommen. Außerdem verfügte er ebenfalls über magische Kräfte, die jedoch vollkommen anders beschaffen waren als die ihrigen.
Das Abendessen, bestehend aus etwas trockenem Brot, Käse und Dörrfleisch, nahmen die drei schweigend ein. Die gegenseitige Ablehnung zwischen Syros und Bär war deutlich spürbar. Der Regen war mittlerweile stark geworden, doch die Höhle bot ihnen ausreichenden Schutz. Den Wind und die Kälte hielt sie allerdings kaum ab, sodass Noara dankbar war für das Zelt aus gewachsten Lederplanen. Keinem der drei war nach einer Unterhaltung zumute, und so schnallte Noara ihr Schwert ab, nachdem sie ihren Anteil aufgegessen hatte, und kroch in das Zelt. Die Männer folgten ihr und hüllten sich in ihre Mäntel. Trotz Bärs Größe war das Zelt gerade geräumig genug, sodass sie alle drei nebeneinanderliegen konnten. Innerhalb kürzester Zeit war Bär eingeschlafen und während sie seinen tiefen, regelmäßigen Atemzügen lauschte, betrachtete die Zauberin den Gecko auf ihrer Handfläche. Sie dachte an ihren Vater. Trotz der beiden Männer neben sich fühlte sie sich einsam und vermisste ihn. Außerdem war sie beunruhigt über die Lage im Osten.
Der Krähenmeister hatte im Laufe der Jahre ein Land nach dem anderen auf dem Kontinent mit Krieg überzogen. Zuerst hatte er sein östliches Nachbarland Asoria angegriffen, das innerhalb weniger Tage jeglichen Widerstand aufgegeben und bedingungslos kapituliert hatte. Der Krähenmeister hatte Asorias König öffentlich foltern und hinrichten lassen und das kleine Königreich vollständig besetzt – es war nun de facto ein Teil Torgulins.
Danach hatte sich sein Blick auf das reiche Silamen und das eher von Landwirtschaft geprägte Hâlmoren gerichtet. Seit Noaras Geburt führten diese beiden Länder Krieg gegen die Armeen des Krähenmeisters. Während das starke Heer Silamens eine Invasion vor etwa zwölf Jahren erfolgreich abgewehrt hatte, war die Verteidigung Hâlmorens sofort unter der Wucht des feindlichen Schlages zusammengebrochen. Seit acht Jahren besetzten Torgulins Truppen die Mark im Nordteil des Landes, doch der Krähenmeister hatte schnell das Interesse an Hâlmoren verloren. Silamen stand nun vollkommen in seinem Fokus. Und er war kurz davor, es zu unterwerfen, dachte Noara bitter. Sie musste Lardon erreichen, musste ihn vor der tödlichen Gefahr warnen, wie Kardana es ihr vor ihrem Tod aufgetragen hatte. Noara kannte Lardon nicht persönlich, aber sie wusste, dass er Erster Reichsfürst von Silamen war und bis zu dessen Entführung König Norams Leibgarde befehligt hatte. Nun leitete er den Widerstand gegen die Armeen des Krähenmeisters. Erreichte sie ihn zu spät, stand Silamen das gleiche Schicksal wie Asoria und der Mark von Hâlmoren bevor.
Obwohl sie nach dem langen Tag erschöpft war, gelang es Noara nicht, einzuschlafen. Die Verantwortung lastete schwer auf ihr und ihre Sorgen hielten sie wach. Auf dem Rücken liegend, die Augen geschlossen, wartete sie auf den Schlaf, bis sie in den frühen Morgenstunden endlich einschlief.

Die nächsten Tage verliefen ähnlich. Syros weigerte sich weiter beharrlich auch nur einen Finger zu rühren und Bär fand sich nach einer Weile damit ab. Er schwieg, wenn die Schlange ihn provozierte, und während er zu Noara freundlich und aufmerksam blieb, redete er mit Syros nur das Notwendigste. Auch wenn er als Gefährte wenig hilfsbereit war, erwies sich Syros als kundiger Führer, der die Berge gut kannte und ein rasches Tempo vorlegte. Noara hatte Schwierigkeiten damit, sich seiner Geschwindigkeit anzupassen. Ihr Rücken schmerzte von dem schweren Gepäck und ihre Füße in den Lederstiefeln waren wund und blutig. Doch sie marschierte klaglos und kämpfte sich verbissen die steinernen Pfade zum Berggipfel empor. Bär, ihr treuer Gefährte, hatte noch mehr zu tragen, doch auch er jammerte nicht. Da sie wusste, dass es in den Bergen schwierig werden würde, Nahrung zu finden, hatte Noara darauf bestanden, genug Proviant für die gesamte Reise über das Gebirge mitzunehmen. So war es ihr einziger Trost, als sie den Berg hinaufstieg, dass ihr Gepäck unweigerlich mit jedem Tag leichter werden würde.

6. Kapitel

Nach sechs mühsamen Tagen erreichten die drei Wanderer endlich den Gipfel des gewaltigen Bergmassivs, das die Länder Hâlmoren und Silamen voneinander trennte. Hier wuchsen nur noch wenige kümmerliche Bäume und trockenes Gras.

„Sieh mal, Bär“, sagte Noara und deutete auf das vor ihnen liegende Tal. „Silamen. Unser Ziel!“

Sie lächelte breit und Bär, der seit Tagen kaum ein Wort gesagt hatte, nickte bedächtig. „Ja, da müssen wir hin. Is’ schön, das Ziel vor Augen zu haben.“

„Das da unten sind nur die Ausläufer von Silamen und der Fuß der Roten Berge“, ließ Syros gelangweilt vernehmen.

„Wir müssen noch tagelang wandern, den großen Fluss überqueren und die Ebene von Châm durchqueren, bis wir auch nur in Lardons Nähe kommen. Also weiter jetzt, verflucht nochmal. Oder möchtest du noch etwas sagen, Noara?“, fragte er ironisch und fügte boshaft hinzu. „Zur Aufmunterung unseres erschöpften Begleiters.“

Noara ignorierte ihn und setzte den Weg fort. Bär warf Syros einen kurzen bösen Blick zu, bevor er ihr folgte. Der Weg ins Tal war beschwerlicher als der Aufstieg. Die Steine waren vom Regen glatt und rutschig und der Nebel teilweise so dicht, dass die Reisenden kaum ihren Vordermann sehen konnten. Nach einer Weile überließ Noara Syros wieder die Führung. Er kannte sich offenbar gut genug aus, um die kleine Gruppe auch ohne Sicht zu führen. Als der Abend anbrach, lagerten sie etwas abseits vom Pfad im Schutz eines Felsens. Da es eine Neumondnacht war, bereiteten Syros und Bär nach dem Abendessen das Târhoun-Ritual vor. Noara setzte sich etwas abseits von ihnen auf einen großen Stein und starrte gedankenversunken in die Nacht, während die beiden Männer Erde und Mondkraut neben das kleine Lagerfeuer legten. Als sie ihre Gebete gesprochen hatten, legte sich Bär müde ins Zelt. Syros dagegen setzte sich zu Noara und sie unterhielten sich eine Weile. Er war an diesem Abend umgänglicher als sonst und daher nutzte sie die Gelegenheit, um ihn etwas zu fragen, das sie schon den ganzen Tag beschäftigt hatte. „Woher kommen die Roten Berge, Schlange?“

Syros lächelte dünn. „Warum möchtest du das wissen?“

Sie zuckte die Achseln. „Wir mühen uns seit Tagen damit ab, über das Massiv zu kommen. Da frage ich mich, woher es kommt. Hat es die Berge schon immer gegeben?“

„Die Antwort hängt davon ab, wen du fragst. Die Priester oder die Gelehrten?“

„Die Gelehrten natürlich.“

Syros drehte nachdenklich ein Stöckchen in den Händen. „Der bedeutendste Gelehrte Hâlmorens, Magister Volovici, hat dazu geschrieben, dass die Erde voller Zauberkraft ist. Sie sorgt dafür, dass der Boden ständig in Bewegung ist, ebenso wie das Meer. Im Meer sorgt die Zauberkraft dafür, dass sich manchmal gewaltige Wellen auftürmen. Ebenso verhält es sich mit der Erde. Sie türmt sich auf und bildet diese riesigen Gebirge.“

Noara hörte ihm aufmerksam zu. „Die Roten Berge sind also eine Erdwelle, die irgendwann entstanden ist. Das bedeutet, früher war dieses Land einmal ganz flach?“

Syros nickte bedächtig. „Davon gehen wir aus, ja.“

„Danke!“, sagte sie und lächelte breit. Sie hatte so selten Gelegenheit dazu, mit einem Gelehrten über ihre Fragen zu der Welt und ihren rätselhaften Phänomenen zu sprechen.

Am nächsten Morgen brachen sie früh auf und folgten dem Pfad hinab ins Tal. Syros, der wesentlich besser gelaunt war als in den letzten Tagen, ging voran. Sie waren schon mehrere Stunden so gelaufen, als er abrupt stehenblieb und sagte: „Still!“

Noara und Bär gehorchten sofort, während die Schlange regungslos und mit geschlossenen Augen dastand.

„Ich spüre Menschen kommen. Viele Menschen.“

„Sind es Soldaten?“, fragte Noara leise.

Der Magier überlegte nur kurz, ehe er antwortete: „Ich fühle Wachsamkeit bei ihnen. Es sind etwa zehn Männer. Wohl bewaffnet. Kannst du sie schon hören, Bär?“, fragte er ohne seine übliche Boshaftigkeit.

Bär, der besser hören konnte als jeder andere den Noara kannte, lauschte kurz und erwiderte: „Nein. Hör’ nix von ihnen. Müssen wohl sehr weit weg sein. Kannst spüren, ob sie jemanden suchen?“

„Das habe ich schon versucht, aber ich kann die Gefühle der Männer nicht richtig erfühlen. Etwas schirmt sie von mir ab“, antwortete Syros und klang verwirrt.

„Was machen wir jetzt?“, fragte Noara besorgt. „Sollen wir uns verstecken?“

Syros dachte kurz nach. „Sie scheinen weit weg zu sein. Wir gehen noch ein Stück und verstecken uns dann in einem der Wäldchen weiter östlich.“

Eiligen Schrittes gingen die drei weiter und folgten dem schmalen Pfad, der den Berg hinabführte. Plötzlich blieben die beiden Männer stehen. Noara, die als letzte ging, war sofort alarmiert. Sie waren inzwischen in eine zerklüftete Felslandschaft mit kleinen Wäldchen und einigen natürlichen Weihern gelangt.

„Ich glaube, sie suchen uns“, flüsterte Syros erregt und Bär sagte: „Ja, hör’ auch die eiligen Schritte von vielen Menschen im Wald. Links von uns und von vorn’.“

„Du meinst, sie wissen, dass wir hier sind?“

Syros grinste freudlos. „Ja, das ist durchaus möglich. Los, wir müssen sofort vom Pfad herunter!“

Er deutete nach rechts und lief los. Noara und Bär folgten ihm eilig. Die drei begannen zu laufen.

„Schlange, wo bringst du uns hin?“, fragte Noara und bemühte sich, den heftigen Schmerz in ihrer Seite zu ignorieren. Ich bin schlecht in Form, dachte sie resigniert, während sie den beiden Männern hinterherlief.

Über die Schulter zischte ihr Syros zu: „Wir dürfen auf keinen Fall auf dem Pfad bleiben, denn dort suchen sie uns. Stattdessen müssen wir durch die Wildnis nach Silamen kommen.“

Der Gecko, der dicht hinter Noara lief, quakte plötzlich eine Warnung.

„Was ist …“, setzte sie an und wirbelte herum. Was sie sah, ließ sie erschrocken zusammenzucken. Eine Gruppe von Untoten brach aus dem Wald hervor, vollkommen lautlos und mit erhobenen Waffen.

„Syros, Bär!“, schrie Noara und bemühte sich, nicht in Panik zu geraten. Untote waren das schrecklichste Mittel der Krähenfestung. Zwar waren sie nicht sonderlich klug, aber schnell, nahezu unhörbar und gefühllos.

Sie hörte Syros fluchen. „Verdammt, die kann ich natürlich nicht spüren.“

„Noara, lauf!“, schrie Bär.

Doch dafür war es bereits zu spät. Die Untoten hatten Noara schon beinahe erreicht. Ohne zu zögern, machten Bär und Syros kehrt und liefen auf die Zauberin zu, die mit einer raschen Bewegung den Gecko in ihre Tasche gesteckt hatte und nun ihr schwarz-bläulich schimmerndes Schwert zog. Etwa ein Dutzend Untote näherten sich ihr rasch und schwenkten dabei lautlos ihre Äxte und Schwerter.

Noara hatte in ihrem bisherigen Leben nicht sonderlich viel Kampferfahrung gesammelt – eine Tatsache, die ihr nun schmerzlich bewusst wurde. Doch sie wusste, wie sie mit einem Schwert umgehen musste, dafür hatten ihr Vater und später Kardana gesorgt.

Die Untoten sehen wirklich furchterregend aus, dachte sie noch, als sie der erste angriff. Er war groß, überragte sie um Haupteslänge und war in eine verrostete Rüstung gekleidet. Sein Gesicht war weiß wie Schnee und vollkommen starr. Kein Muskel zuckte in den wächsernen Zügen, nur die roten Augen glommen bedrohlich. Mit einer Streitaxt hieb er nach Noara, die dem ersten Schlag geschickt auswich. Dann warf sie einen Feuerball auf ihn, der die alten Stofffetzen unter seiner Rüstung in Brand setzte. Doch der Untote ließ sich davon nicht stören und griff Noara weiter an. Inzwischen hatten ihre beiden Gefährten sie erreicht und stellten sich dicht bei der Zauberin auf. Bär fasste seinen schweren Holzstab mit beiden Händen und zerschmetterte mit einem einzigen wuchtigen Schlag einen herannahenden Untoten. Mit sichtlichem Widerwillen nahm sich Syros dessen Schwert und wehrte damit den Angriff von zwei weiteren Untoten ab.

Ihre Gegner waren in der Überzahl und jeden Moment konnte noch menschliche Verstärkung eintreffen. Die Zeit läuft uns davon, dachte Noara und tauchte unter einem neuerlichen Schlag des Untoten mit der Streitaxt weg. Sie nutzte den Moment, als er kurz seine Deckung vernachlässigte und schlug ihr Schwert mit aller Kraft gegen seinen Hals. Es gab ein widerliches, knackendes Geräusch, als die Klinge den Wirbel durchtrennte, und ohne einen Laut brach der Untote vor ihr zusammen.

Noara nutzte die kurze Atempause, um sich einen Überblick zu verschaffen. Drei Untote hatten sie schon erledigt, die restlichen acht waren in einen wilden Kampf mit Syros und Bär verwickelt. Mit seinem wirbelnden Stock hielt Bär allein schon fünf Feinde in Schach. Die anderen drei hatten Syros gegen einen großen Felsen gedrängt und hieben unbarmherzig mit ihren rostigen Waffen auf den Mann ein.

Noara packte den Drachenzahn fester und stürmte auf die drei zu. Sie schlug auf einen von ihnen ein, doch der Schlag war schlecht platziert und ihre Klinge glitt an seiner harten ledernen Rüstung ab, ohne Schaden zu verursachen. Der Untote drehte sich zu ihr um, fixierte sie mit einem roten Auge und hieb mit seinem Schwert auf sie ein. Die andere Hälfte seines Gesichts fehlte, vermutlich hatte Syros sie ihm abgeschlagen. Noara parierte seinen Schlag, wirbelte zur Seite und führte einen Hieb gegen seinen knöchernen Hals. Er blockte ihren Angriff und begann sie mit einer Reihe von schnellen, harten Schlägen zurückzudrängen.

„Noara, hilf mir“, japste Syros in Todesangst.

Noara versuchte die schnellen Schläge des Untoten abzuwehren und sah zu ihm hinüber. Er hatte einen weiteren Untoten zerschmettert, doch der andere hatte ihn zu Boden gedrückt und quetschte Syros mit seiner knochigen Hand die Kehle zu. Mit aller Kraft versuchte Syros die Hand wegzudrücken, die sich wie eine eiserne Klammer um seinen Hals legte.

Verzweifelt versuchte Noara sich von ihrem Angreifer zu lösen, doch er drängte sie mit seinen wuchtigen Schlägen immer weiter zurück. Der Schweiß lief ihr in die Augen und sie keuchte vor Anstrengung. Schlag um Schlag prasselte auf sie nieder, während sie nur noch parieren konnte und immer weiter zurückwich. Panik befiel sie. Würde sie hier sterben, im Grenzland zu Silamen? Das eine Auge des Untoten starrte sie an, ohne Regung und ohne zu blinzeln fixierte es sie, während er mechanisch mit seinem rostigen Schwert auf sie einhieb. Sie war kein Mensch für ihn, nur ein Ziel, das es auszulöschen galt.

Sie hörte Syros nochmal schreien, hörte ihren Namen. Nein, so würde sie nicht sterben, beschloss sie wild und verdrängte die Angst. Sie wich einem weiteren Schlag seitlich aus, packte dann ihr Schwert mit beiden Händen und stieß die Klinge dem Untoten direkt ins Auge. Die Klinge durchdrang den Schädel mit einem lauten Knacken. Schnell zog Noara sie wieder heraus, wirbelte nach rechts und stieß dem orientierungslosen Untoten die Schulter in die Seite. Er stürzte und brüllend hieb sie ihm mit ihrem rasiermesserscharfen Schwert den Kopf ab.

Sie atmete einmal tief ein, wischte ihre schweißnassen Hände an ihrem Waffenrock ab und rannte dann zu Syros, der noch immer unter dem gewaltigen Untoten lag und seinen Widerstand fast aufgegeben hatte. Noara stürzte sich auf den Untoten, der sofort von Syros abließ und sein fallengelassenes Breitschwert wieder aufnahm. Der anschließende Kampf kostete sie ihre letzte Kraft, da der Untote seine Klinge blitzschnell und mit immenser Wucht führte. Aus dem Augenwinkel sah sie, dass Bär verzweifelt versuchte, sich aus dem Pulk der Untoten, die ihn bedrängten, zu befreien, um ihr zur Hilfe zu kommen. Diesen einzigen Augenblick, den sie nicht aufmerksam war, nutzte der Untote und führte einen schweren Schlag gegen sie aus. Im letzten Augenblick wehrte Noara ihn ab, doch sein Schwert glitt am Drachenzahn ab und die flache Seite der Klinge prallte mit einem Krachen gegen ihre ungeschützte Seite. Der Schlag raubte ihr den Atem und Noara schrie vor Schmerz auf, bevor ihr schwarz vor Augen wurde und sie zusammenbrach.

 

Noara ist noch ein kleines Kind. Sie steht in der Werkstatt ihres Vaters, so viele Stunden hat sie hier schon verbracht und ihm bei der Arbeit zugesehen. Sie hat ihn beobachtet, wie er geduldig über Stunden ein Stück Metall bearbeitete, um daraus einen Pflug zu schmieden, einen Hammerkopf, Nagel oder ein Hufeisen. Manchmal auch eine Waffe oder ein Rüstungsteil. Doch heute arbeitet er nicht. Er ist in großer Unruhe, Noara spürt seine Angst. Er hat das Wappen von der Wand genommen – seit Generationen hängt es dort, hat schon seinen Vater, seinen Großvater und dessen Vater als Schmied ausgewiesen. Auf dem schildförmigen Holzstück ist ein blauer Amboss mit zwei gekreuzten Hämmern abgebildet, und darüber ein weißer, fünfzackiger Stern. Kurz betrachtet ihr Vater das Wappen, fährt mit den Fingern die verblassten blauen Linien nach. Dann geht er zur Esse und legt es sorgsam ins Feuer. Die Flammen ergreifen das Holzstück und binnen weniger Augenblicke brennt es lichterloh. Eine letzte Flamme züngelt daraus hervor, bevor es lautlos zu Asche zerfällt.